Sendance: Tanz um Sensorik und Impedanz

Mit filmreifer Gründungsgeschichte geht das JKU-Spin-off Sendance daran, Sensoren weich, dehnbar und hautverträglich zu machen. Das erste Anwendungsgebiet: Diabetikerschuhwerk und Prothesen.

Sollte die Gründungszeit von Sendance jemals verfilmt werden, ist eine Schlüsselszene bereits fix. Obwohl sie so an den Haaren herbeigezogen wirkt, dass dem Drehbuchautor unweigerlich Kritik wegen der unglaubwürdigen Handlung droht. Und doch hat sich im März 2021 in Linz genau das zugetragen, was man vielleicht einmal im Kino oder im TV sehen wird: Die ihres Weges gehende Medizintechnikerin und Mechatronikerin Yana Vereshchaga, an der gerade der Soft-Materials-Spezialist Robert Koeppe vorbei radelt. Ausgerechnet der Wissenschafter, den Vereshchaga unbedingt ansprechen will. Weil Koeppe nämlich zusammen mit Daniela Wirthl und Thomas Stockinger gerade erst ein Start-up gegründet hat, das fast dieselbe Idee verfolgt wie Vereshchaga: Dehnbare und weiche Sensoren zur Messung von Druckverteilung zu entwickeln. Dass Koeppe und Partner auch daran werken, hat sie beim oberösterreichischen MedTech- und Technologie-Inkubatur tech2b erfahren.
Als sie den sportlichen Kollegen bemerkt, ist er schon an ihr vorbei. Die Gelegenheit scheint verpasst. Aber plötzlich dreht Koeppe um, weil er unterwegs etwas verloren hat. So kommt es doch noch zur ersten Begegnung zwischen Vereshchaga und Koeppe, die später beide als geradezu schicksalhaft empfinden: "Es sollte so sein."


Bild: tech2b / Andreas Balon

Aus dem Solo wird ein Paartanz
Koeppe staunt nicht schlecht, als er erfährt, woran Vereshchaga arbeitet: An einem Innenschuh-Sensor für Diabetiker. Die haben in den Füßen krankheitsbedingt oft keinerlei Empfindungsvermögen mehr – und riskieren bei schlecht sitzendem Schuhwerk schwere Durchblutungsstörungen. Vereshchagas orthopädischer Sensor soll rechtzeitig Alarm schlagen, wenn der Schuh drückt.
Stockinger, Wirthl und Koeppe tüfteln ihrerseits an einer Sensorik für Prothesen. Konkret an der Messung der Druckverteilung zwischen dem Gliederstumpf und der Prothese. Das soll den Prothesenträger vor Beschwerden schützen – und den Orthopäden zuverlässig Rückmeldung über den Sitz der Prothese geben.
Auf die unerwartete Begegnung am Straßenrand folgen weitere Gespräche, in denen sich schnell herausstellt: Hier ist Kooperation besser als Konkurrenz. Im August 2021 steigt Vereshchaga nachträglich als Mitgründerin in das Start-up ihrer drei Kolleginnen und Kollegen ein. Dass die russische Technikerin eine lange und infolge Knieschaden beendete Tanzkarriere hinter sich hat, gibt dem Unternehmensnamen Sendance einen feinen neuen Spin. "Dabei setzt sich Sendance eigentlich aus Sensorik plus Impedanz zusammen", erklärt Daniela Wirthl, "aber das Bild tanzender Sensoren entspricht uns auch ganz gut." Das umso mehr, als Sendance darauf abzielt, die bisher handelsüblichen kantigen, starren und harten Sensoren weich, dehnbar und anschmiegsam zu machen. "Unsere Mission sind Sensoren, die sich dem Menschen anpassen und die Signale der Hautoberfläche lesen können", erklärt Yana Vereshchaga.

High-Tech-Sensoren aus Billigbauteilen
Zwei große Hürden auf dem Weg dorthin hat Sendance bereits genommen, wie Robert Koeppe berichtet: "Es ist uns gelungen, aus billigsten und frei erhältlichen Basiskomponenten mehrere Hundert funktionstüchtige Sensoren nach unserer Vorstellung zu bauen."
Mit der Entwicklung des sogenannten Sendance Grid – einer sensorischen Orthese zur Korrektur von Fehlstellungen im Bereich der Brustwirbelsäule – hat das erklärtermaßen technologiegetriebene Start-up bereits einen Demonstrator und den Proof-of-Concept in Einem geschafft und geschaffen.
Dass sich Sendance auf das Anwendungsgebiet Orthopädie begeben hat, ist ein Hybrid aus Strategie und Zufall. Koeppe, der nach dem Prinzip der Serendipität lebt und sich bereitwillig vom Glück aufsuchen lässt, sagt, das Praxisfeld habe Sendance gefunden und nicht umgekehrt.
Thomas Stockinger, der die Dinge lieber streng wissenschaftlich betrachtet, sieht die Entwicklung nüchterner: "Unsere Technologie ist in vielen Gebieten anwendbar. Wir haben vorher auch Einsatzmöglichkeiten im Holzbau und in der Lebensmittelverarbeitung angedacht und uns letztlich für die Orthopädie entschieden."
Denn diese immer noch von persönlicher Erfahrung und individuellem handwerklichen Geschick getragene Branche wisse selbst, dass ihr die Digitalisierung noch bevorsteht. Etwa in Form von Scans und 3-D-Drucktechnik. Sowie eben auch den Sendance-Sensoren, die einen großen Beitrag zu einer Orthopädie 4.0 leisten könnten.

Bild: tech2b / Andreas Balon

Herz, Hirn, Tatkraft
Ob Sendance orthopädischen Erfolg haben wird, ist für Koeppe jedoch keineswegs gesetzt: "Es kann sein, dass wir den Durchbruch auch auf einem ganz anderen Gebiet schaffen." Für den aus Süddeutschland stammenden Wissenschaftler, Entrepreneur und Alpinist aus Leidenschaft wäre das keine Überraschung. Denn Koeppe, der 2001 zum Doktoratsstudium aus München an die Kepler Universität kam, ist kein Business Rookie. Schon als Doktorand gründete er ein erfolgreiches und gewinnbringend verkauftes Start-up für Lichtsensorik. Nebenher war er lange im Auftrag von tech2b als Mentor von Start-ups tätig: "Ich kenne tech2b länger als alle, die heute dort arbeiten."
Das sind Erfahrungen, die Koeppe ziemlich gelassen an die Aufgabe der Sendance-Geschäftsführung herangehen lassen. Er weiß organisatorische und technische Wege abzukürzen, die Businesssprache zu sprechen und sich im Sinne von Waldviertler-Gründer Heini Staudinger an eine einfache Handlungsmaxime zu halten: Hirn einschalten, mit dem Herzen dabei sein und schnell ins Tun kommen. Denn: "Es kommt mehr auf eine klare Richtung an als darauf, immer alles fertig zu haben."

Mit Schwimmflügeln ins kalte Wasser
Koeppes Erfahrung gibt den anderen Sendancern Rückhalt und Rückenwind. Und dem Team beim Sprung ins kalte Wasser der freien Wirtschaft Schwimmflügel mit, wie Daniela Wirthl sagt. Sie bringt ihr Projektmanagement-Knowhow aus dem Soft Materials Lab des Linz Institute of Technology an der Kepler Uni mit. Dort hat Sendance seinen indirekten Ursprung, erklärt Thomas Stockinger, der ebenfalls im Soft Materials Lab akademische Karriere gemacht hat: "Man hat im Lab gesehen, dass die Forschung in einen Bereich kommt, in dem eine kommerzielle Nutzung denkbar wird."
Als einige Lab-Mitarbeiter eine Firmengründung erwogen, wurde Koeppe konsultiert, der schnell initiativ wurde. Stockinger: "Dass er sich bereit erklärt hat, die Führungsverantwortung zu übernehmen, hat den Weg für das Projekt Sendance freigemacht." Für gelernte Forscher wie Stockinger und Wirthl heiße Entrepreneurship, sich auf einen Schlag um alles zu kümmern, was vorher andere organisierten: "Finanzielles, Personelles, Rechtliches und Organisatorisches – einfach alles. Auch das Tempo ist ein anderes und man muss exakt definierten Erwartungen und Ansprüchen gerecht werden."

Der Plan: Schnelles Wachstum
Noch im Projektstadium absolvierte das Sendance-Kollektiv die Pre-Scale-up-Inkubation bei tech2b, um dann rasch zu wachsen: Zum Gründerquartett sind mit den Prototypen-Entwicklern Leon Kainz und Daniel Handstanger-Deimling sowie der IT-Fachfrau Martina Kremsmayr bereits drei Mitarbeiter dazugekommen. "Das ist für die österreichische Start-up-Szene, in der man immer noch gerne klein denkt, nicht unbedingt typisch", sagt Koeppe, der sich gegenwärtig vor allem um die Finanzierung kümmert. 2022 will Sendance Risikokapital einsammeln, um schnell wachsen zu können.
Bis Mitte 2022 wird das Start-up noch im Open Innovation Center der Kepler Universität arbeiten, wo Sendance einen Serverraum als Labor und einen Teil des Großraumbüros nutzt. "Kommenden Sommer wissen wir dann, wie groß wir als Unternehmen sein werden und wieviel Platz wir für die Maschinen brauchen, die wir übrigens zumindest für die Reproduktionsphase selber bauen werden", sagt Koeppe. Dann wird sich auch weisen, ob die damit gefertigten Sensoren tatsächlich die Orthopädie revolutionieren helfen werden – oder doch etwas ganz Anderes bewirken.

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Fotos: tech2b / Andreas Balon

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